Walter Schwab | Wege zum Licht

Wege zum Licht ...

oder: Was hat der Goethe mit Wetzlarer Optik zu tun?

Walter Schwab

Frei aber mit wahren Hintergründen erzählt die Geschichte, wie Optik und Fotografie zu einer Kernkompetenz der Wetzlarer wurden. Beim Märchen-Wettbewerb der Wetzlarer Festspielen 2009 errang die Erzählung den ersten Platz.

Vorwort für Ortsfremde

Wahr ist, dass ein Mensch namens Tile Kolup einst als falscher Kaiser nach Wetzlar kam, dass der Dom unvollendet ist, und dass Wetzlar vor 250 Jahren das oberste Gericht des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" beherbergte.


Dieses „Reichskammergericht" wiederum war Anlass für einen junger Frankfurter namens Johann Wolfgang Goethe, als Praktikant für einige Monate in Wetzlar zu weilen. In dieser Absicht wenig erfolgreich - aber mit Muse und Zeit, sich in die adrette Charlotte Buff zu verlieben. Die war leider verlobt, wodurch der Sprössling einer alten Advokaten-Familie quasi zur Schriftstellerei getrieben wurde.


Mit seinen „Leiden des jungen Werther“ hatte er den Erfolg, der ihm bei Lotte verwehrt war.

 

Wahr ist auch, dass Pioniere wie Carl Kellner, Moritz Hensoldt und Ernst Leitz Wetzlar zu einer Optikstadt machten, in der bis heute hochwertige Optik-Produkte gefertigt werden.

 

Wetzlar, Reichskammergericht
Wetzlar. Das Haus mit dem Doppeladler beherbergte das Reichskammergericht.


Die Geschichte

Zwischen grünen Wiesen und bewaldeten Hügeln lag die kleine Stadt am Ufer eines großen Flusses. Flache Furten führten von einer Seite zur anderen. Als eines Tages eine große Steinbrücke den Strom überspannte, wurde das Reisen sehr viel angenehmer, und der Weg entwickelte sich zu einer großen Handelsstraße. Viele Kaufleute kamen nun auf ihren langen Reisen durch die Stadt, um hier trockenen Fußes und ohne Gefahr für ihre wertvollen Gewürze und Stoffe ans andere Ufer zu gelangen. Sie kehrten in den Gasthäusern ein, kauften und verkauften, und damit hielt zum ersten Mal etwas wie „Wohlstand“ bei den Bürgern Einzug. Die Zünfte und der Handel blühten auf, und bei den Stadtoberen reifte der Gedanke an mehr - der Wunsch nach Größe und Macht. „Wir wollen aus unserem kleinen Städtchen eine mächtige und im ganzen Land berühmte Stadt machen!“, sprachen sie immer öfters untereinander, und planten eine glanzvolle Zukunft.

 

Zunächst begannen sie, wichtige und bedeutende Persönlichkeiten in ihre Stadt zu laden. Nicht viele kamen, aber eines Tages stand wahrhaftig der Kaiser mit Gefolge vor dem Tor. Man fragte nicht lange „Warum kommt der Kaiser zu uns?“, sondern war vor Stolz geblendet. Bürgerschaft und Magistrat jubelten, sahen ihr Ziel erreicht und dachten sich: „Wenn der Kaiser kommt, muss unsere Stadt schon sehr bedeutend sein!“ Aber, oh weh, der Kaiser war gar kein echter Kaiser! Und da die Sitten damals einfach und von eher grober Natur waren, verbrannte man ihn kurzerhand. Damit war die Geschichte zwar erledigt, aber beschämt musste man sich ein-gestehen, dass die große und mächtige Stadt leider nur ein Wunschbild war.

 



 

Jahre vergingen, und erneut reifte der Plan, das Ansehen der Stadt zu steigern. Nach vielen Disputen und Erörterungen kam man überein: „Wir müssen eine Kirche bauen. Eine große, die von weither sichtbar ist. Wir wollen einen Dom errichten!“

 

Jetzt muss man wissen: Ein »Dom« ist ein Gotteshaus, das zu einem Bischof gehört. Nur - es gab in der Stadt keinen Bischof! Wen wundert es, dass das Schicksal dieser Anmaßung nicht tatenlos zusah! Nach anfänglicher Zuversicht geriet der Kirchenbau ins Stocken. Das Stadtsäckel war leer. So steht der Dom noch heute unvollendet ohne zweiten Turm, so wie der Baumeister samt seinen Gesellen ihn verlassen haben.

 

 

Es sollte einen dritten Versuch geben, die Stadt aus ihrem Schlaf zu wecken. „Justitia soll in unsere Stadt einziehen und von hier aus Recht und Urteil sprechen.“ Ein »Hohes Gericht« wurde beschlossen, und es entstand das höchste und wichtigste im ganzen Kaiserreich. Viele Bürger zogen im Gefolge in die Stadt, und alles schien sich nun zum Guten zu wenden. Jedoch: In dem weiten Land blieb die Gerechtigkeit meist auf der Strecke. Das vielbeschworene Recht - zu schwach gegen Geld und Einfluss jener Zeit - wartete vergeblich zwischen vielen tausend Aktendeckeln in den Gewölben. Und so kam es nicht unerwartet, als eines Tages das „Hohe Gericht“ in die Bedeutungslosigkeit versank. Und damit auch die Stadt.

 



 

Ratsherren und Bürger waren sehr betrübt, dass alles Streben immer wieder so vergebens war. Doch eines Nachts erschien dem Oberbürgermeister ein alter Dichterfürst im Traum. Dieser war zu Lebzeiten in der Stadt gewesen. Er kannte sie recht gut, und hatte wohl ein Stück Herzblut an sie verloren - oder zumindest in ihr. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Wie auch immer, er sprach über „Dichtung und Wahrheit“, und dass man nicht ständig falschen Trugbildern folgen solle. In der Stadt schlummere eine Kostbarkeit, die es zu entdecken gelte - oder zu gestalten! Und dieser Schatz sei dazu angetan, Verborgenes ans Licht zu führen und ein neues Bild der Welt zu schaffen. Diese Dinge seien Ursprung für die künftige Bedeutung dieser Stadt. So oder ähnlich sprach der Alte.

 

 

Am nächsten Morgen rief der Oberbürgermeister alle Bürger und den Magistrat zusammen und schilderte seinen Traum. An jeden appellierte er, das Gehörte zu beherzigen und sich aufzumachen auf die Suche. Es gab viele tüchtige Handwerker und schlaue Leute mit zahlreichen Ideen - die doch wieder verworfen wurden. So verstrich viel Zeit, doch eines Tages klopften drei Burschen an die schwere Rathaustür. Ein jeder von ihnen trug ein verhülltes Päckchen mit sich und ersuchte darum, den Inhalt den ungläubig und verblüfft blickenden Ratsherren vorzuführen. Schnell wurden sie in deren Mitte gelassen, und einer nach dem anderen offenbarte seine Entdeckung.

 



 

Der Erste zeigte ein Instrument, durch das man mit dem Auge die kleinsten Dinge um ein Vielfaches vergrößert deutlich erkennen konnte. Das Unsichtbare wurde sichtbar und konnte von Gelehrten aufs Genaueste erforscht zu werden.

 

Mikroskop aus Wetzlar, von Kellner oder Leitz

Der Zweite holte ein Gerät hervor, durch das man ebenso mit seinen Augen schauen konnte. Aber es war nicht für die Nähe, sondern für entfernte Dinge vorgesehen. Die bunten Vögel in der alten Buche, das scheue Reh, selbst Mond und Sterne: Alles schien aus großer Ferne herangerückt, und konnte in ganzer Schönheit andächtig betrachtet werden.

 

Altes Fernglas von Moritz Hensoldt mit Dachkant-Prisma.

 

Der Dritte präsentierte schließlich einen Apparat, der beim Durchschauen das eben noch Gesehene wie durch Zauberhand als kleines Bildnis festhielt. Als ob die Zeit stillstehen und man einen Teil der Wirklichkeit ausschneiden und mitnehmen könnte, um ihn später größer und genauer anzuschauen und anderen zu zeigen.

 

Alte Leica Kamera von Oskar Barnack und Ernst Leitz aus Wetzlar.


 

Die Ratsherren waren tief beeindruckt und sprachlos über diese Neuerungen. Nie vorher hatten sie von solchen Dingen je gehört oder ähnliches gar selbst gesehen. Dann überkam sie langsam aber voller Stolz die Erkenntnis, welch Fähigkeiten doch hier in ihrer Stadt verborgen waren.


Gelehrte, Handwerkermeister und Gesellen machten sich nun daran, diese „optischen Geräte“ - wie man sie fachmännisch benannte - in ihrer überaus komplexen Art zu fertigen und immer kunstfertiger zu gestalten. Aus ihren Händen gingen unzählige dieser Apparate hinaus in alle Welt. Zum großen Nutzen und zur Freude der Besitzer.


Nach vielen Jahren hatte so das Städtchen Wetzlar seine Bestimmung entdeckt und ist seither als „Stadt der Optik“ in aller Welt bekannt.


Den alten Dichterfürsten, der sich zeitlebens mit Licht und Farben beschäftigt hatte, wird’s sicherlich gefreut haben.


ENDE